Illiquide oder insolvent?
Wie der Berufsstand dieses Dilemma löste, wurde nie bekannt. Es kann mit Sicherheit angenommen werden, dass dieses Dilemma durch die kriegführenden Regierungen gelöst wurde, indem sie den Banken verboten, ihre wahre finanzielle Situation zu offenbaren. In der Zwischenzeit wurde eine neue Buchführungsregel eingeführt, die bei der Definition der Insolvenz sehr viel nachsichtiger war. Die korrekte Bewertung der Aktiven wurde aufgeweicht. Den Banken wurde erlaubt, ihre Staatsanleihen zum Nennwert zu bilanzieren, unabhängig vom tatsächlichen Marktwert – als ob sie diese jederzeit zu dem in der Bilanz aufgeführten Preis verkaufen könnten. Ein neuer Begriff wurde kreiert, um die finanzielle Situation einer Bank zu beschreiben, in deren Bilanz Staatsanleihen ein Loch gerissen hatten. Eine solche Bank wurde fortan als „illiquide“, aber immer noch als solvent bezeichnet. Die Praxis, einer illiquiden Bank zu erlauben, weiter zu wirtschaften, bedeutet jedoch, einen gefährlichen Kurs einzuschlagen. Es hat weitreichende Folgen, einschliesslich der Gefahr der Unterhöhlung der Fundamente der westlichen Zivilisation. Die Skandale um Enron und Bear Stearns sind nur der Anstoss zum Zusammenbruch des Finanzsystems. Es ist klar, dass die jüngste „Subprime-Krise“ einen verzögerten Effekt der laschen, im Jahr 1914 eingeführten Rechnungslegungsstandards darstellt.
Ich kann zwar nicht beweisen, dass es ein ungeschriebenes Gesetz für Buchhalter gibt. Ich habe keine Erklärung, warum eine offene Debatte über Änderungen der Rechnungslegungsgrundsätze nie stattgefunden hat. Offenbar gab es keine Austritte aus den Reihen der Buchhalter wegen des unethischen und gefährlichen Charakters der neuen Praxis. Diese Änderungen der Bilanzierungsvorschriften jedoch ebneten den Weg zur Selbstzerstörung.
Die dominierende Rolle des Westens beruht auf der moralischen Überlegenheit der geistigen Riesen der Renaissance, darunter Luca Pacioli. Diese felsenfesten Prinzipien wurden jedoch nach und nach aufgegeben und die Kommandozentralen auf Treibsand verlegt; solide Richtlinien wurden von opportunistischen verdrängt: die westliche Zivilisation verlor ihren weltweiten Führungsanspruch. Es ist keine Überraschung, dass sie heute vor den grössten Herausforderungen aller Zeiten steht.
Im Jahre 1921 fiel diese Praktik in Form einer Panik im US-Staatsanleihemarkt gnadenlos auf deren Urheber zurück. Doch niemand befasste sich mit dieser Krise (Ausnahme: „B.M. Anderson, Finanz-und Wirtschaftsgeschichte der Vereinigten Staaten, von 1914 bis 1946“, posthum veröffentlicht im Jahre 1949, siehe Hinweis am Ende des Aufsatzes). In der Finanzpresse wurde das Ereignis totgeschwiegen, die Informationen blieben auf Bankenkreise beschränkt. Eine historische Chance, um vom Irrweg abzuweichen, den die Welt 1914 eingeschlagen hatte, wurde verpasst. Es war die letzte Möglichkeit, die Weltwirtschaftskrise abzuwenden, die bereits am Horizont lauerte.